Über Artediem Eckard Fürlus im Gespräch mit dem chilenischen Komponisten und Hörspielautor Juan Allende-Blin
Für diesen Artikel muss gleich drei Menschen gedankt werden, denn er ist durch mehrere Schichten hindurch zu Artediem gekommen. Einmal gilt mein Dank Hermann Keldenich - eines der Mitglieder des Artediem-Netzwerkes - der das herausragende Kulturportal www.tuxamoon.de betreibt und der uns diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat. Dann dem Autor Eckard Fürlus, dessen sensible Gesprächsführung die Qualität dieses Artikels trägt. Und nicht zuletzt Juan Allende-Blin dafür, dass er "mit Haut und Haaren seine Heimat in der Kunst eingerichtet hat".


In Musik denken - Assoziationen und Erinnerungen - Ein Gespräch mit Juan Allende Blin

Eckard Fürlus

Im Rahmen eines Konzertabends mit Werken des in Santiago de Chile geborenen Komponisten und Hörspielautors präsentierte das Museum Folkwang in Essen am 26. April 2002 das von dem Verleger Stefan Fricke und Professor Werner Klüppelholz herausgegebene Buch "Juan Allende-Blin – Ein Leben aus Erinnerung und Utopie". In diesem Buch werden zum ersten Mal ausgewählte Aufsätze und Vorträge Allende-Blins aus den Jahren 1973 bis 1999 versammelt und ergänzt durch Texte zu Leben und Werk des Komponisten von Ulrich Eckhardt, Thomas Günther, Werner Klüppelholz, Klaus Linder, Hans Burkhard Schlichting, Hanns Stein und Gerd Zacher.

Derjenige, der mit Haut und Haaren in der Kunst seine Heimat eingerichtet hat, sondert sich unfreiwillig ab - egal, in welchem Land er sich niederlässt.
Juan Allende-Blin

Es sei nicht ratsam, sich ganz vorn hinzusetzen. "Am besten hört man in der Mitte", sagt Juan Allende-Blin höflich und empfiehlt mir einen in der zehnten Reihe gelegenen Platz im noch fast leeren Karl Ernst Osthaus-Saal im Museum Folkwang in Essen. Ein schwarzer Yamaha-Flügel, eingerahmt von zwei Lautsprechern, befindet sich in der Bühnenmitte. Dann erscheinen die ersten Gäste und die Laudatoren des heutigen Abends. Anlaß für diese Zusammenkunft ist die Präsentation des Buches "Juan Allende-Blin - Ein Leben aus Erinnerung und Utopie".

In seiner Laudatio auf Juan Allende-Blin hebt Mario-Andreas von Lüttichau vom Museum Folkwang hervor, daß Sprache immer ein großes Anliegen im Werk des Komponisten gewesen sei. Seinen Lebensweg habe Allende-Blin als Fußgänger zurückgelegt, nicht etwa im Flugzeug. So sei es ihm, Allende-Blin, Schritt vor Schritt möglich gewesen, am Wege Liegengebliebenes aufzulesen. Für ihn – so von Lüttichau – sei die Zusammenarbeit mit Juan Allende-Blin stets "wie Musik erleben" gewesen. Dr. Edna Brocke von der Alten Synagoge in Essen erinnert in ihrer Rede an eine Konzertveranstaltung, die Juan Allende-Blin im November 1991 zusammen mit Vorträgen über Musik aus dem Exil in der Alten Synagoge in Essen organisiert hatte. In Anspielung auf die Rekonstruktionstätigkeit Allende-Blins, die Musik ermordeter, verfemter oder vertriebener Komponisten wie Paul Dessau, Hanns Eisler, Erich Itor Kahn, Stefan Wolpe und anderer hörbar zu machen, bezeichnete Edna Brocke sein Werk als eine fortwährende Spurensuche.

Juan Allende-Blin entstammt einer französisch-spanischen Familie aus Santiago de Chile. In seinem Elternhaus verkehrten Künstler, Musiker und Dirigenten wie Fritz Busch, Erich Kleiber und Hermann Scherchen. Nach dem Studium der Musik, Mathematik und Architektur geht Allende-Blin 1951 nach Deutschland. In Deutschland hofft er, die Musik wiederzufinden, die von den Nazis verfemt und verfolgt worden war. In Detmold lernt er den Organisten und späteren Hochschullehrer Gerd Zacher kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. In Hamburg arbeitet Allende-Blin für den Norddeutschen Rundfunk. Er befasst sich intensiv mit der Klangwelt des Futurismus und insbesondere mit den audiophonen Hörspielen Filippo Tommaso Marinettis, die Juan Allende-Blin als erster realisiert. Anhand von Skizzen kann Allende-Blin eine verschollen geglaubte Oper von Claude Debussy, "La chute de la maison Usher" – "die intimste Musik, die Debussy je geschrieben hat" (Allende-Blin) – rekonstruieren. Zu seinen herausragenden Werken gehören das als Klangskulptur bezeichnete Stück "Erratum musical de/pour/sur Marcel Duchamp" von 1972 und die Blandine Ebinger gewidmete Komposition "Walter Mehring – ein Wintermärchen. Imaginäre Szene für Bariton und Kammerorchester" von 1994.

Als Juan Allende-Blin an diesem Abend selbst das Wort ergreift, erzählt er von Nils Holgersson, dessen von Selma Lagerlöf verfasste Geschichte er in seiner Kindheit vorgelesen bekam. Wie Nils Holgersson, so sei auch Juan Allende-Blin ein Luftschiffer, jemand, der auszieht, das Neue kennenzulernen. Damit beschreibt er sehr deutlich sein lebenslanges Engagement für diejenigen Künstler, die zu Unrecht vergessen sind. Allende-Blin macht deutlich, dass er nichts von Etiketten, von Schulen und Gruppen von Künstlern hält. "Ein großes Kunstwerk", sagt er, "wird immer nur von einem geschaffen." Zu den wichtigsten Stationen innerhalb seiner Biographie rechnet Juan Allende-Blin die Werke der Komponisten César Franck, Arnold Schönberg und Ivan Wyschnegradsky sowie die Lektüre der Schriftsteller Marcel Proust, Paul Valéry und Franz Kafka. Allende-Blin, der sich seit seiner Kindheit eine kritische Perspektive bewahrt hat, hält es mit Marcel Proust und dessen Diktum, in dem es heißt, dass dasjenige, was der Künstler dem Publikum gibt, eigentlich ja das ist, was dieser für sich allein erarbeitet hat. Nun ist von allen Künsten die Musik von der Alltagswahrnehmung am weitesten entfernt; sie verlangt eine bescheidene und stille Konzentration, wenn man eines vermeiden will: die planmäßige Zerstörung der Kultur.

In seiner Rede über "Juan Allende-Blin und das Hörspiel" spricht Hans Burkhard Schlichting vom Südwestdeutschen Rundfunk Baden-Baden von der untergründigen Wirkung des Werkes Allende-Blins, das sich kontinuierlich und ohne Brüche entwickelt habe, und unterstreicht die dramaturgischen Interessen dieses außergewöhnlichen Hörspielautors und Komponisten. Sehr früh habe Allende-Blin auch Grammophon und Tonband als Sammler und Musikhistoriker genutzt, aber erst später die Techniken des elektronischen Zeitalters im eigenen Werk eingesetzt.“

An diesem Abend spielt der Pianist Thomas Günther außer der Kompositionen "Transformations IV pour piano" von 1960 auch die dreisätzige "Sonatine pour piano" von 1949/50 von Juan Allende-Blin. Mehr als 50 Jahre nach seiner Entstehung gelangt dieses früheste Werk Allende-Blins, das seine Auseinandersetzung mit der Zweiten Wiener Schule dokumentiert, anläßlich der heutigen Veranstaltung zur Uraufführung. Zum Ausklang des Abends ertönt "Rapport sonore. Relato sonoro. Klangbericht", ein Werk Allende-Blins, das 1983 mit dem Karl-Sczuka-Preis des Südwestfunks, dem traditionsreichsten Preis für Radiokunst, ausgezeichnet wurde. Über "Rapport sonore. Relato sonoro. Klangbericht", eine Tonband-Collage aus instrumentalen und vokalen Zitaten, die in fünf Teilen die abstrahierte Biographie des Komponisten darstellt, hat Juan Allende-Blin geschrieben:

"Den 1. Teil nenne ich 'Das Märchen', und er handelt von meiner Kindheit. Der 2. Teil heißt 'Krieg'. Durch die Nachrichten, die ich besonders von den deutschen Emigranten bekam, begann ich die Dimension des Krieges zu begreifen. Den 3. Teil nenne ich 'Ausschau'. Ich hatte die Musik von Skrjabin, Schönberg, Webern, Messiaen, Paz aufgenommen und nun fing ich an, meine eigene musikalische Aussage zu artikulieren. Der Krieg war vorüber. Die Sehnsucht, die Orte, in denen diese Musik entstanden war, kennenzulernen, wurde immer deutlicher und dringender. So ergab sich der 4. Abschnitt meines Hörstücks 'Reise'. Im fünften und letzten Teil, den ich 'Situation' tituliert habe, versuche ich, mein erfundenes Alphabet vorzustellen. Mit diesem Alphabet von Klängen und Stille baue ich heute meine Tongebäude. Sie schweben zwischen Erinnerung und immer neuem Entwurf.".“

Eckhard Fürlus: Wie bringt man neue Musik unter die Leute?

Juan Allende-Blin: Ja – wenn ich das wüsste! (Lacht). Man muss dem Publikum die logische Entwicklung der gesamten Musik plausibel darstellen. Es muß merken, dass es sich um einen kontinuierlichen Strom innerhalb einer folgerichtigen Überlieferung der Musiksprache handelt. Kompositionen aus der Vergangenheit stehen keineswegs im Widerspruch zu ebenbürtigen neuen. Ein Programm zum Beispiel, das eine späte Klaviersonate von Beethoven mit den Klavierstücken op. 23 von Schönberg enthält, wird zeigen, wie verwandt solche Werke sind – vorausgesetzt der Interpret besitzt die hervorragenden Qualitäten, um eine solche geistige Arbeit zu vollziehen. Ein aufmerksamer Zuhörer wird merken, dass ein explosiver Ausdruck beiden gemeinsam ist. Er könnte sogar wahrnehmen, dass die Prozesse beider Komponisten vergleichbare Organisation der musikalischen Gedanken besitzen. Die Klanggestalten profilieren sich sowohl bei Beethoven als auch bei Schönberg durch Differenzierungen, durch Veränderungen, durch Kontraste. Sie werden dann wie in einem dramatischen Aufbau zu präzisen Höhepunkten geführt. Die so entstandenen Gestalten bekommen lebendige Eigenschaften wie lebende Personen. Die Beethovensche Sonatenform, die aus Thesis und Antithesis aufgebaut ist, hat auch Schönberg natürlich anders gestaltet, auf seine Weise und mit einer Entwicklungserfahrung von etwa hundert Jahren.Die neue Musik als isoliertes Phänomen zu betrachten, finde ich absolut falsch. Sie ist - insofern es sich um bedeutende Werke handelt - ein untrennbarer Teil der Tradition.Diese Tatsache kann man durch exemplarische Konzerte, in denen man neue und alte Musik sinnvoll zusammenbringt, jedem vorurteilslosen Zuhörer überzeugend demonstrieren. Ich glaube, und das hat mir auch meine Erfahrung gezeigt, dass ein solches Publikum bereit ist, sich durch neue Hörerfahrungen bereichern zu lassen.

Eckhard Fürlus: Eine Kombination von älterer Musik und neuerer Musik ist also auch insofern wünschenswert, um dem Publikum die Vorstellung zu nehmen, dass allein die Auseinandersetzung mit neuer Musik einer intellektuellen Vorbereitung bedarf. Landläufig denkt man ja so, dass wenn man sich eine Beethoven-Sonate anhört, man sie eben auch von selbst versteht. Und das ist ein Missverständnis.

Juan Allende-Blin: Oh ja.

Eckhard Fürlus: Es gibt also auch in jedem Fall einen pädagogischen Impetus, wenn man so etwas macht?

Juan Allende-Blin: Ja, ja. Und ich finde das wichtig. Ich bin leider nicht immer in der Lage, Programme mit Werken aus verschiedenen Jahrhunderten zu organisieren. Wenn ich Programme mit nur zeitgenössischer Musik zusammenstelle, so bemühe ich mich durch erläuternde Texte, die Wurzeln der neueren Werke zu zeigen.Die nicht-professionellen Zuhörer sind nicht gewohnt, Musik als Sprache wahrzunehmen. Das Denken in Klängen gehorcht ähnlichen, aber nicht den gleichen Gesetzen wie das Denken mit Wörtern. Das Vokabular, die Grammatik und die Syntax der Klänge folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Das Vokabular, die Grammatik und die Syntax der Wörter bilden die Mittel unserer alltäglichen Verständigung. Aber die Rhetorik, das heißt die Kunst des Überzeugens, ist eine Klammer, die Wortsprache und Klangsprache miteinander verbindet.

Eckhard Fürlus: Das gesprochene oder das geschriebene Wort ist ja für Ihre Arbeit immer auch sehr wichtig gewesen; es gibt verschiedene Stationen innerhalb Ihres Repertoires, und einige Autoren wurden ja auch gestern abend während der Präsentation genannt, die für Ihr Werk eine besondere Bedeutung haben. Wodurch geschieht eine Auswahl von Autoren? Was ist da der Bezug?

Juan Allende-Blin: Seit meiner frühesten Kindheit habe ich viel gelesen. Ich habe mir dafür keinen Plan ausgedacht; wenn man in sehr jungen Jahren Dante und Cervantes, Baudelaire und Maupassant gelesen hat, entwickelt man Kriterien, die sich von selbst ergeben. So bilden Augustinus und Samuel Beckett für mich ein Fundament ohne Widersprüche. Ich versuche ständig durch die Lektüre meinen Horizont zu erweitern. Wir besitzen einen enormen Reichtum an geistigen Schöpfungen; sie umfassen von Homer, Aristoteles, Platon bis Marcel Proust, James Joyce oder Jorge Semprún. Ich bin glücklich, wenn ich aus dieser Tradition schöpfen kann.

Eckhard Fürlus: Ganz besonders gefreut habe ich mich gestern abend, als die Textstelle von Hans Arp hörbar wurde: "Weh, unser guter Kaspar ist tot." Das hat Hannah Höch bei einer Feierstunde für Hans Arp in der Akademie der Künste vorgelesen. Damit möchte ich überleiten zu Hannah Höch und dem Collage-Prinzip, das ja für Sie auch sehr wichtig ist. Können Sie dazu etwas sagen?

Juan Allende-Blin: Oh ja. Für mich spielt Kurt Schwitters und seine Technik der Collage eine ganz große Rolle. Ähnliches gilt für das Werk von Hannah Höch. Ich hatte das Glück, im Gymnasium in Santiago de Chile einen Zeichenlehrer bekommen zu haben, der ein exilierter deutscher Maler war. Er hieß Oskar Trepte und war Schüler von Paul Klee und Wassily Kandinsky gewesen. Er stammte aus Saarbrücken, war katholisch und seine Frau jüdisch. Sie hatten zwei Kinder, die etwa in meinem Alter waren; sie gingen zum selben Gymnasium wie ich. In Saarbrücken wurden diese Kinder während der Nazizeit auf der Straße mit Steinen beworfen und bespukt, weil sie den Judenstern tragen mussten. Die Familie konnte nach Chile emigrieren, und der Vater wurde mein Zeichenlehrer. Mit uns nahm er den Vorkurs von Paul Klee im Bauhaus durch. Ich spürte die Überlieferung einer entscheidenden Tradition. Aber meine Mitschüler benahmen sich bösartig dem nicht mehr sehr jungen Lehrer gegenüber, der des Spanischen kaum mächtig war. Sie mokierten sich frech über seine Fehler. Ich erzählte meinen Eltern über die Erniedrigungen, die Herr Trepte zu leiden hatte. Sie baten mich, ihn und seine Familie zu uns einzuladen. Sie kamen an einem kalten Wintersonntag uns besuchen: die Eltern und die zwei Söhne. Mein Vater und ich spielten Werke für zwei Klaviere: Mozart, Brahms, Ravel. Als ich mich umdrehte, sah ich Tränen in ihren Augen. Sie schienen sich endlich wieder zu hause zu fühlen. So entstand eine Art Freundschaft zu Herrn Trepte. Ich ging oft zu ihm nach Hause, und er zeigte mir Bücher mit Reproduktionen von Pechstein, Schmidt-Rottluff, Heckel, Kandinsky, Klee. Dabei analysierte er mir die Bilder. Er zeigte mir die Verbindung zwischen den Gestalten, die Parameter, welche die Formen und Farben ordnen. Und wenn wir gemeinsam Ausstellungen besuchten, machte er mir vor, wie man ein Bild durch optische Konzentration besser beobachten kann; man sollte nur mit einem Auge schauen und die Finger einer Hand werden gekrümmt vor dem Auge placiert, so dass man das Bild umrandet und der Blick sich nur auf die Leinwand konzentriert. Zur gleichen Zeit – ich war noch im Gymnasium – lernte ich ein Berliner Ehepaar kennen: beide waren Maler. Hans Soyka und seine Frau besaßen eine wunderbare Bibliothek und einige Schallplatten: Käthe Kühl, Ernst Busch, Hilde Hildebrand, Lotte Lenya. Bei ihnen zu Haus sah ich Reproduktionen von Hannah Höch. Die Poesie ihrer Collagen hat mich sofort fasziniert.

Eckhard Fürlus: Es ist auch so, wenn ich mich hier umsehe bei Ihnen, es gibt sehr viel Literatur, es gibt sehr viel - ...

Juan Allende-Blin: Das ist nur ein Teil. In anderen Räumen gibt es mehr. Eckhard Fürlus: Es gibt sehr viel Kunst an den Wänden, und ...

Juan Allende-Blin: Das ist eine Lothar-Schreyer-Wand. Dazwischen ist ein passendes Bild von Michel Seuphor. Alles andere ist von Lothar Schreyer. Eckhard Fürlus: Phantastisch. Ganz phantastisch. Aus dem Bühnenwerk "Mann"? Juan Allende-Blin: Ja. Das sind alles Geschenke von Lothar Schreyer. Eckhard Fürlus: Lothar Schreyer war eine Ihrer wichtigsten Begegnungen, als Sie 1951 nach Hamburg kamen. Wie kam dieser Kontakt zustande? Juan Allende-Blin: Das fängt wieder in Chile an. Eines Tages ging ich in Valparaíso spazieren, einer Hafenstadt in der Nähe von Santiago, als ich in einem Keller das Antiquariat eines alten deutschen Juden entdeckte, der sein Geschäft schließen wollte. Dort kaufte ich für umgerechnet eine D-Mark die zwei Bände "Dichtung und Dichter der Zeit" von Albert Soergel. Im zweiten Band fand ich die Dichter und Schriftsteller, die mich brennend interessierten, unter ihnen Lothar Schreyer und Kurt Hiller. Soergel beschreibt sehr genau das Werk eines jeden von ihm besprochenen Autors und zitiert ausführlich aus seinen Schriften. So lernte ich besonders die Bühnenwerke Schreyers durch charakteristische Auszüge kennen.

Als ich mich in Hamburg niederließ, schaute ich im Telefonbuch nach und fand tatsächlich die Eintragung: Schreyer, Prof. Dr. Lothar. Also lebte er noch. Zuerst wagte ich nicht, ihm zu schreiben, aber zu einem runden Geburtstag und durch die Vermittlung eines Kunstkritikers gratulierte ich ihm und stellte mich ihm vor. Schreyers Antwort war sehr herzlich, und er lud mich zu sich ein. So begann eine Freundschaft mit ihm und seiner Frau. Wir führten intensive Gespräche, und er beschenkte mich immer wieder mit seinen Büchern und Bildern. Besonders genau beschrieb er mir seine Theaterarbeit, die er während des I. Weltkriegs begonnen hatte. Als Illustration zu seinen Ausführungen schenkte er mir die Partitur seines Bühnenwerkes "Kreuzigung" mit handgemalten Aquarellfarben, denn die Farben bezeichnen die charakteristischen Eigenschaften des "Klangsprechens"; das ist eine Technik zwischen Sprechen und Singen - ähnlich wie der fast gleichzeitig entstandene "Sprechgesang" von Arnold Schönberg. Beide lebten zu der Zeit in Berlin. Durch die Gespräche mit Lothar Schreyer hatte ich die Idee, eine Ausstellung seiner Bilder zu organisieren; es wurde die erste nach 1933. Am 5. November 1965 feierten wir die Vernissage in der Galerie "Hamburg 13", zu der auch Schreyers alte Freunde vom "Bauhaus" kamen.

Eckhard Fürlus: Herr Schlichting hatte gestern abend von einer untergründigen Wirkung Ihres Werkes gesprochen. Und das, was Herr Schlichting sagte, von dieser untergründige Wirkung, zum Beispiel auch das Collage-Prinzip innerhalb der Musik, das habe ich zum ersten Mal in der amerikanischen Musik in den 60er Jahren festgestellt, aber ich wusste nicht, woher das kommt. Ihre Bedeutung für das Collage-Prinzip in der Musik ist meines Erachtens nicht entsprechend gewürdigt. Herr Schlichting hat das gestern mit dieser untergründigen Wirkung beschrieben. Gibt es da Querverbindungen zu anderen Komponisten, die mit diesem Collage-Prinzip arbeiten, das ja sehr stark in der bildenden Kunst vertreten ist, von dem ich allerdings nicht weiß, welche Bedeutung es in der Musik hat.

Juan Allende-Blin: Es gibt schon bei Camille Saint-Saëns im "Le Carnaval des animaux – grande fantaisie zoologique" aus dem Jahr 1886 Zitate von fremden Komponisten, die er sehr raffiniert und ironisch einsetzt. Auch Strawinsky zitiert im "Jeu des cartes" mit ironischer Absicht. Durch Distorsion des zitierten Materials erreicht man die Ironie, die sonst der Musik versagt bleibt. Bei mir entwickelt sich das Collage-Prinzip nicht aus der Ironie, sondern aus der Verbindung zwischen Erinnerung und Assoziation. Das Stück, das Sie gestern hörten, "Rapport sonore / Relato sonoro / Klangbericht", besteht aus einer sehr großen Anzahl von Zitaten – zu Beginn des Hörspiels aus fremden und später aus eigenen Werken. Ich kann nicht erwarten, dass jeder Hörer alle diese Zitate präzise erkennt. Meine Absicht ist eher eine Atmosphäre der Erinnerung zu erzeugen. Beim Hören evoziert man stichwortartig eine Vergangenheit, die man allmählich zu rekonstruieren versucht. Und ich taste mich mit präzisen Schritten an meine Gegenwart heran. Von der Märchenwelt meiner Kindheit durch die Qualen des II. Weltkrieges zu meiner kompositorischen Gegenwart des Jahres 1982: Klänge von Debussy und Schönberg, von Gustav Mahler und Darius Milhaud, Stimmen von Ernst Busch, Blandine Ebinger, Lotte Lenya, aber auch von Tristan Tzara, Hans Arp, Pablo Neruda, René Char, Charles de Gaulle, Salvador Allende, sind deutlich vernehmbar. So kristallisiert sich diese Reise, welche die Zeit sprengt. So kann Collage vielleicht eine Mehrdimensionalität erzeugen. Bei Kurt Schwitters ist dies die markanteste Eigenschaft. Ein Straßenbahnschein zum Beispiel kombiniert mit einem Stück Holz und einem Nagel auf eine Leinwand geklebt, die wiederum farbig gestaltet ist, ergibt bei Kurt Schwitters eine überzeugende Einheit. Durch die Komposition, durch die Ordnung der heterogenen Elemente, entsteht ein Sinn, den ich metalogisch nennen würde, ein Ausdruck, den die russischen Futuristen für ihre Poesie anwendeten. Dieser Sinn übersteigt die aristotelische Logik, er entspringt einer poetischen Metalogik.

Eckhard Fürlus: Dieses poetische Element in ihrem Werk steht ja auch sehr im Vordergrund. Und man merkt diese Nähe zu Kurt Schwitters, der ja auch ein großer Lyriker ist, und andere Lyriker - wir hatten eben von Hans Arp gesprochen.Juan Allende-Blin: Ja, aber auch Alfred Lichtenstein spielt für mich eine bedeutende Rolle. Eckhard Fürlus: Bedeutet Collage innerhalb der Musik immer Gleichzeitigkeit, oder ist es legitim von Collage zu sprechen innerhalb einer Abfolge wie zum Beispiel bei "Déserts" von Edgar Varèrse? Ist das Collage-Prinzip? Juan Allende-Blin: Was meinen Sie mit Collage bei Varèse?

Eckhard Fürlus: Daß er Orchester-Teile nimmt, dann Elektronik, ausschließlich, und wieder Orchester. Ist das Collage? Juan Allende-Blin: Nein. Varèse nennt die elektronischen Teile "interpolations", auf die man auch verzichten kann, um nur die orchestralen Teile aufzuführen. So bestimmt er es in seiner Partitut. Es handelt sich also eher um einen Dialog zwischen instrumentalen und elektronischen Klängen, wenn man das integrale Werk aufführt.

Eckhard Fürlus: Vor einiger Zeit hatte Ingo Metzmacher über die Situation der Musikrezeption in Deutschland gesprochen, und Berlin kam dabei gar nicht gut weg. Er bezog sich dabei auf den damaligen Kultursenator, der nach seiner Meinung einer etwas altmodischen Vorstellung von Musik nachhing, als er sagte, die neue Musik müsse aber wenigstens genau so gut sein wie die alte Musik. Ingo Metzmacher sagte, dass er in Hamburg ein sehr verständnisvolles Publikum habe und dass die Bedingungen da für moderne Musik sehr gut seien. Ich wüsste natürlich gerne, was der Grund ist, in Essen zu wohnen. Ist es der Einzugsbereich des Westdeutschen Rundfunks, der in der Geschichte auch eine sehr große Rolle gespielt hat? Ist dieser Bereich Köln und Ruhrgebiet ein Schwerpunkt innerhalb der modernen Musik?

Juan Allende-Blin: Das weiß ich nicht. Das interessiert mich auch wenig. Denn wenn es was Interessantes gibt, bin ich – glaube ich – noch so mobil, dass ich dort hinfahre.Meine Beziehung zur Stadt Essen begann mit Kurt Jooss. Ich hatte ihn bereits in Chile kennen gelernt, und als ich 1951 in der Bundesrepublik Deutschland ankam, besuchte ich ihn hier. In Essen wirkte ebenfalls mein Freund Jean Cébron, Choreograph und Tänzer von eminenter Bedeutung. Mein erster Kompositionsauftrag stammte von der Tanzabteilung der Folkwangschule; es ist die Musik für die Choreographie von Jean Cébron "Séquence" (1961), eine Komposition, die ich Lothar Schreyer gewidmet habe. Später (1964) entstand die Musik für "Recueil", ebenfalls zu einer Choreographie von Jean Cébron. Pina Bausch und Jean Cébron haben dieses Ballett in ganz Europa und in New York oft aufgeführt.

In Essen konnte ich auch meine Zusammenarbeit mit Gerd Zacher fortsetzen. In Detmold komponierte ich für ihn die "Transformations II" (1952), in Hamburg "Échelons" (1962/1968) und "Mein blaues Klavier" (1969/1970), in Essen "Coral de caracola" (1985) und "Transformations V" (1987), dieses letztere Werk für Orgel und Instrumentalensemble. Dann muß ich das Museum Folkwang erwähnen. In dieser Institution wird tatsächlich die ursprüngliche Folkwang-Idee verwirklicht, indem viele Künste vorgestellt werden. Hier haben sehr früh schon Tanzabende, zum Beispiel von Kurt Jooss, später von Jean Cébron, stattgefunden. Ebenso wird die Musik gepflegt.1972 erhielt ich einen Kompositionsauftrag vom Museum, und so entwarf ich in Zusammenarbeit mit dem Maler und Bühnenbildner Hermann Markard die "Orgelwiese", die monatelang während der Ausstellung "Szene Rhein-Ruhr 72" im Gruga-Park zu sehen und zu hören war. Die "Orgelwiese" – in einer späteren Version "Orgel-Insel" genannt – ist ein Ensemble von mobilen durchsichtigen Skulpturen, auf denen von mir präparierte Orgelpfeifen aufgestellt sind, deren Klangkonstellationen sich niemals wörtlich wiederholen.

Im Oktober 1989 konnte ich das Symposium "Besuch aus dem Exil" in Essen organisieren. Es handelt sich um den Besuch von Musikern und Choreographen, die 1933 auf Druck der Nazis haben Deutschland verlassen müssen und heute in ihren Heimatländern leben. An vier Tagen wurden Vorträge gehalten, Filme gezeigt und Konzerte gespielt. Die meisten dieser Veranstaltungen fanden im Museum Folkwang statt, weitere in der Alten Synagoge, und ein Orgelkonzert in der Evangelischen Kirche Essen-Rellinghausen. In den folgenden Jahren konnte ich in Zusammenarbeit mit dem Kunstring Folkwang und ihrem Vorsitzenden, Herrn Dr. Mario Andreas von Lüttichau, einige weitere Projekte verwirklichen. So zum Beispiel die Rekonstruktion des Bühnenwerkes "Mann" von Lothar Schreyer und einige Konzertreihen mit Musik des XX. Jahrhunderts. Sie sehen, dass mich vielfältige Beziehungen mit der Stadt Essen verbinden. Darüber hinaus ist das Ruhrgebiet bis zur Stadt Köln eine Gegend von unglaublichem kulturellem Reichtum. Museen mit wunderbaren Sammlungen, Sprechtheater, Opernhäuser, die alle in erreichbarer Nähe sind, bieten uns hochinteressante Programme. Belgien und die Niederlande sind auch nicht weit, und Paris, Berlin, Zürich ebenfalls.

Eckhard Fürlus: Ich habe den Eindruck, dass einige der Galeristen, die nach der Wende Anfang der 90er Jahre relativ rasch nach Berlin gegangen sind, bedauern, diesen Schritt gemacht zu haben, denn Städte wie Köln und Düsseldorf sind weiterhin für die bildende Kunst besonders wichtig.

Juan Allende-Blin: Ja, das merke ich hier sehr deutlich.

--- Juan Allende-Blin: Ein Leben aus Erinnerung und Utopie / hrsg. Von Stefan Fricke und Werner Klüppelholz.Saarbrücken: Pfau, 2002. ISBN 3-89727-148-2. 278 Seiten. 24,50 Euro.

Bild oben: (c) Eckard Fürlus

Dieser Artikel wurde Artediem freundlicherweise von TUXAMOON zur Verfügung gestellt. Weitere Artikel finden Sie unter www.tuxamoon.de , den kostenlosen Newsletter von TUXAMOON können Sie hier abonieren.




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