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Von der Dänin Inger Christensen wird gesagt, sie sei die "reflektierteste Lyrikerin unserer Zeit". Und tatsächlich erscheinen ihre Arbeiten fernab von jeder didaktischen Intention als poetische Forschungsaufträge. Wie z.B. der Gedichtsband "Alphabeth"
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Die zärtliche Mathematik der Anwesenheit

"Alphabeth" von Inger Christensen


„die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es“ – so startet der Lyrikband „Alphabet“ von Inger Christensen. Die dänische Lyrikerin wendet sich nicht der Erscheinung, sondern der Existenz der Dinge zu. Behutsam, als würde sie eine Feder auf einen Tisch vor sich legen, richtet sie die Welt der Dinge auf – der Aprikosenbäume, des Broms, des Cerebellums und der Citronella, des Dioxins und der Eiderenten.

Sie schafft damit eine geistige Architektur der Anwesenheit, die zugleich eine weiche Poesie und Präzision hat, die die Sprache eines existentiellen Forscherwillens spricht. Ihre Beziehung zu der Naturwissenschaft spiegelt sich in der Konstruktion des „Alphabeths“. Dem Gedichtsband mit einem einzigen „Großgedicht“ liegt eine mathematische Formel zugrunde: die Fibonacci-Reihe – die mathematische Formel für Wachstum. 1,2,3,5,8,13,21,34,55,89,144, 233, 377, 610 – für eine neue Stelle werden immer die beiden vorherigen addiert.

Jeder Abschnitt des Gedichtes ist einem Buchstaben zugeordnet und der wiederum einer Stelle in der Fibonacci-Reihe, die angibt, wie viele Zeilen das Gedicht hat. Während „A“ mit einer Zeile geschrieben wird, gehören „N“ (womit das Großgedicht endet) 610 Zeilen. Bei „Z“ wäre in175.682 Zeilen die ungreifbare Nebligkeit von Deutungen und Erscheinungen der Welt mit dem Gewicht und der Anwesenheit von Dingen bevölkert worden.

Das Zugrundelegen einer mathematischen Formel unter ein lyrisches Werk spiegelt eine der Besonderheiten von Christensens Arbeit: Die hohe, naturwissenschaftlich akribische Reflexion schafft mit der Schönheit ihrer Sprache, die etwas Verführendes und Auflösendes hat, ein einzigartiges Feld poetischer Präzision. Häufig wird Inger Christensen als die reflektierteste Lyrikerin unserer Zeit beschrieben. Und tatsächlich spürt man in jedem ihrer Texte den Forscherwillen, der nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch das Instrument der Annäherung - die Sprache - mit der Poesie als Methode erforscht.

Einer meiner Lieblingssätze von Inger Christensen ist ihre Aussage, dass es darum ginge „in der Schwindligkeit Wohnung zu nehmen“. Und genau das gelingt mit diesem außergewöhnlichen Gedichtband: Im Geheimnisvollen, Unbenannten jenseits der Sprache wird mit der Sprache ein mathematisch-zärtliches und poetisch-präzises Haus gebaut, von dessen Veranda aus man ein bisschen mehr Horizont erahnt als von anderen Orten.
(Buchrezension: Judith de Gavarelli)


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