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Genuss und Philosophie : Gedankliche Umkreisungen von Matthias Oberländer
Matthias Oberländer, Jahrgang 1961 und "gelernter Philosoph", umkreist die nicht unproblematische Beziehung zwischen Philosophie und Genuss und nimmt uns parallel zu den nächsten 3 Genusslettern mit auf Wege und Trampelpfade zu Fragen, die er sich zum Genießen gestellt hat.


Eine Ethik des Genusses?

In einer entzauberten Welt (Weber), in der ökonomische Sachzwänge regieren, ist die Anti-Ökonomie des Genusses zwar kein Akt der Insurrektion, aber zumindest die Demonstration eines zutiefst menschlichen Bedürfnisses nach Transzendenz (paradoxerweise sinnlich), nach Überwindung des immer zu knapp bemessenen Endlichen, Profanen.

Menschen, die genießen, besonders wenn der Genuss selbst für sie noch etwas Besonderes zu sein vermag, feiern ihre Kreatürlichkeit, setzen sich über die ökonomische Tendenz zur Versachlichung hinweg, erfahren ihre Subjektivität und lassen andere an dieser teilhaben, sofern sie nicht stille Genießer sind.

Ihr Verhalten bildet und bestätigt Kultur und – wenn auch mehr auf unbewusste Weise – den „Megatrend“ zu einer steten Verfeinerung und Verallgemeinerung zivilisatorischer Errungenschaften. „Variatio delectat“ – der aufgeschlossene Genießer kennt zwar die Quellen seiner Freuden aber er möchte auch immer Neues oder das Bekannte zumindest in immer neuen, aufregenden Variationen erleben.

Das klingt nach einer späten philosophischen Würdigung des Genusses. In der Tat, müssen sich - in unserem Kulturkreis - weder Genuss noch Genießer vor strengen Sitten- oder Tugendrichtern mehr verstecken. Das ihm zuträgliche Maß seines Genusses bestimmt jeder selbst, der Inhalt ist, innerhalb der jeweiligen gesetzlich vorgegebenen Schranken, beliebig. Genuss kann das Lebensgefühl und die Kreativität steigern, ja er mag ein sogar ein universelles Grundrecht sein oder wenigstens werden.

Ein negativer Beigeschmack wird dem Genuss jedoch erhalten bleiben: Der Genießer betreibt, wie wir gesehen haben, beim Genießen eine bewusste Anti-Ökonomie, etwa indem er mit seiner Mahlzeit länger braucht, als es eigentlich notwendig wäre. Schon das kann sich nicht jeder leisten.

In den meisten Gegenständen unserer - nirgendwo bislang inventarisierten - gesellschaftlichen Genusskultur ist darüber hinaus ein außergewöhnlich hohes Quantum an menschlicher Arbeit vergegenständlicht, das zu ihrer Herstellung (oder Herbeischaffung) erforderlich ist. Ja, man kann sogar sagen, dass uns die meisten Gegenstände umso genusswürdiger erscheinen, je seltener und damit wertvoller sie sind. Der Genussgegenstand wird zum Fetisch, der seinerseits den Genießer beherrscht.

Der Genießende eignet sich diese fremde Arbeit an, und je leichter ihm dies, im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen zu tun fällt, und je mehr er seinem Hang zur Verschwendung von Zeit und Ressourcen nachgibt, umso stärker läuft er Gefahr, dass sein Tun als dekadent, unethisch oder als schamlos empfunden wird. Das muss nicht immer nur mit Neid zu tun haben; es gilt auch dann, wenn der Genussgegenstand ein rares und ökologisch sensibles Naturgut darstellt. Die universelle Verfügbarkeit von Genussgütern entfremdet uns von der Wirklichkeit, aus der diese stammen.

Wir leben gut. Wie leben die Anderen? Heute können wir genießen. Morgen auch noch? Vieles scheint mir dafür zu sprechen, dass es auch in Zukunft keinen reinen Hedonismus als unbestrittene philosophische Position geben wird. In einer Weltgesellschaft, die sich der Grenzen ihres Wachstums – nach dem berühmten Diktum des Club of Rome – nach und nach bewusst wird, wird Genuss sich auch weiterhin zu verantworten haben und in diesem Sinn wird der „klare Verstand“, von dem schon Epikur sprach, eine Voraussetzung für nachhaltigen und ethisch rechtfertigbaren Genuss bleiben.


Mit Lust denken
 

Philosophie und Genuss 1 - eine problematische Beziehung 


Philosophie und Genuss 2 - eine systematische Annäherung 


Philosophie und Genuss 3 - eine Ethik des Genusses? 


Genuss als Geographie der Entäußerung - Gedanken von Karin Schlechter